Pflegepolitische Forderungen: Höhere Wertigkeit, bessere Einbindung
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Dr. Roy Kühne. Foto: www.spieker-woschek.de
Die Herausforderungen in der Pflege sind so groß wie nie zuvor. Das betrifft zum einen die Pflegeberufe, zum anderen aber auch die Sicherstellung der pflegerischen Versorgung in Gänze. Der Fachkräfte- und Personalmangel einerseits und die stetig steigende Nachfrage andererseits werden zu einer Gefährdung der Sicherstellung der pflegerischen Versorgung in Deutschland führen. 2020 sollen die ersten Ergebnisse des neuen Personalbemessungsverfahrens präsentiert werden. Diese werden den Bedarf an Pflegekräften aller Voraussicht nach weiter erhöhen. Die Sicherstellung der pflegerischen Versorgung kann künftig durch die existierenden Mechanismen allein nicht ausreichend gedeckt werden. Dies lässt sich schon erahnen, wenn man bedenkt, dass die Anzahl der Pflegebedürftigen bis 2050 auf mehr als sechs Millionen Menschen ansteigen wird. Schätzungen zufolge werden bereits in zehn Jahren zwanzig Prozent der Pflegebedürftigen keine entsprechenden Angebote finden.
Die Politik ist also stärker als bisher gefordert, die Weichen richtig zu stellen und allen Beteiligten die Gewissheit zu geben, dass eine qualitativ hochwertige Pflege nicht zu einer Überlastung der einzelnen Akteure führen darf. Wir brauchen zusätzliche Pflegefach- und Pflegeassistenzkräfte, um die bereits aktiven zu entlasten und die künftigen Pflegebedürftigen zu versorgen. Pflege muss dabei finanzierbar sein, pflegerische Leistungen müssen gut bezahlt und die Angehörigen weiter entlastet werden.
Welche konkreten Schritte sind dringend erforderlich, um die Umgestaltung der Pflege zu erreichen?
1. Wertigkeit der Pflege in der öffentlichen Wahrnehmung stärken!
Die Arbeit, die Pflegfach- und Pflegeassistenzkräfte täglich leisten, ist unverzichtbar und immens wertvoll. Umso wichtiger ist es daher, eine entsprechende gesellschaftliche Würdigung der Pflegekräfte und des Berufs insgesamt zu erreichen. Durch eine entsprechende finanzielle Ausstattung der Anbieter und Einrichtungen, angemessene Pflegelöhne und die notwendige gesellschaftliche Anerkennung der Berufe können wir dazu aktiv beitragen. Die Würde der Berufe fängt nicht beim Geld an, darf daran aber auch nicht scheitern. Ebenso wichtig sind aber auch die Arbeitsbedingungen, mit denen Pflegekräfte und auf Pflege Angewiesene gleichermaßen zurechtkommen müssen. Um Versicherte und Pflegekräfte zu stärken, fordere ich folgende Maßnahmen, die die Wertigkeit und Funktionalität der Pflege insgesamt erhöhen sollen.
Der ärztliche Bereitschaftsdienst hat mit der Hotline 116 117 eine zentrale Anlaufstelle für Patienten, die außerhalb der regulären Sprechzeiten dringend ärztliche Hilfe benötigen. Wir brauchen eine ähnliche zentrale Anlaufstelle auch für Pflegebedürftige und Angehörige, die nach einer Versorgungsmöglichkeit suchen. Die zentrale Stelle muss über Informationen der Anbieter und deren Kapazitäten verfügen und soll mindestens die zeitnahe, vorübergehende Versorgung sicherstellen. Eine Einbindung von Krankenkassen, Bund, Ländern und Kommunen unter einer eigenen Stabsstelle für die Einrichtung der „Pflegehotline“ ist unerlässlich, um die Kapazitäten der einzelnen Einrichtungen deutschlandweit wie landesspezifisch abzugleichen. Diese soll keinesfalls die pflegerische Beratung durch die Einrichtungen und Dienste ersetzen. Stattdessen soll sie in Situationen, in denen noch kein Ansprechpartner bekannt ist, erste Anlaufstelle sein und an Einrichtungen und Pflegedienste vermitteln, die Kapazitäten zur Verfügung haben. Ziel muss es sein, Betroffenen und Angehörigen schnelle und unkomplizierte Hilfe geben zu können. Durch die Vielfältigkeit der Digitalisierung können Meldesysteme über freie Plätze oder verfügbare pflegerische Leistungen angeboten werden, ohne die Leistungserbringer mit überbordender Bürokratie zu belasten.
Ebenso wie das Bundesministerium über einen eigenen Pflegebeauftragten verfügt, müssen auch die Länder ihre Verantwortung wahrnehmen und entsprechende Strukturen schaffen, die den Bürgern die Gewissheit geben, zentrale Ansprechpartner zu haben.
Der Qualitätsausschuss Pflege und seine Geschäftsstelle haben sich als Selbstverwaltungsorgan bewährt. Die Arbeit sollte deshalb über den bisherigen Zeitraum hinaus verlängert werden.
Meines Erachtens muss die Wertigkeit der Pflegeberufe auch mit der nächsten Ressortverteilung innerhalb des Bundeskabinetts stärker in den Fokus der Öffentlichkeit gelangen. Ich fordere daher, die Personalstrukturen im Bundesministerium für Gesundheit zu verstärken. Das Ziel, die notwendigen Änderungen in der Pflegesystematik aktiv voranzutreiben, muss stärker als bisher in Angriff genommen werden.
2. Digitalisierung – Chancen nutzen, Möglichkeiten erweitern
Mit dem Anschluss an die Telematikinfrastruktur, wofür wir mit dem Digitale-Versorgungs-Gesetz (DVG) eine Grundlage geschaffen haben, ist ein erster Schritt getan. Dieser wird aber längst nicht ausreichen, um digitale Innovationen im Gesundheits- und Pflegesystem entscheidend voranzubringen. Mit dem DVG II, das zeitnah folgen soll, muss es gelingen, weitere Anwendungen in die elektronische Patientenakte zu integrieren. Davon müssen auch die Pflegeeinrichtungen stärker profitieren. Auch sind die Zugriffsrechte auf die elektronische Patientenakte für Pflegekräfte zeitnah zu ermöglichen. Um den (bürokratischen) Mehraufwand schultern zu können, müssen Pflegeeinrichtungen und Pflegedienste die Möglichkeit haben, Personal bereitzustellen, das sich verstärkt mit der Digitalisierung beschäftigt. Diese Mehrbelastung darf nicht auf Kosten der pflegerischen Versorgung geschehen, indem sie von den Fachkräften „on top“ erledigt werden muss. Wir brauchen Pflegekräfte, die als „Pflege-Digitalberater“ eingestuft werden können und von den Kranken- und Pflegekassen refinanziert werden müssen. Bei gleichbleibendem Gehalt muss diesen innerhalb der Arbeitszeit die Möglichkeit gegeben werden, sich neben der pflegerischen Tätigkeit auf die digitalen Aufgaben zu konzentrieren. Dazu soll gehören, die Einrichtungen bei der Beantragung der im Pflegepersonalstärkungsgesetz verankerten Anschubfinanzierung für digitale Technik und entsprechender Weiterbildungsangebote zu unterstützen. Die im Bundeshaushalt eingestellten 300 Millionen Euro sind bislang nicht ausreichend in Anspruch genommen worden, um diesen Teil des Pflegepersonalstärkungsgesetzes als Erfolg werten zu können.
Zusätzlich zu den neuerdings möglichen Erstattungen von Gesundheitsapps ausschließlich auf ärztliches Rezept müssen Verordnungsmöglichkeiten auch für Pflegekräfte geschaffen werden. Das bedeutet eine enorme Attraktivitätssteigerung für die Pflegekräfte und führt gleichzeitig zu einer Entlastung der Ärzte. Gleichermaßen müssen Vollmachten und Folgeverordnungen digitalisiert in die Abläufe eingebunden werden können, dies reduziert den bürokratischen Aufwand in Pflegeeinrichtungen um ein Vielfaches. Zu besonders hohen Hürden kommt es auch im Bereich der Annahme- und Abgabevollmachten bei der Ausgabe von Medikamenten durch Apotheken. Auch diese müssen vollständig in die digitale Infrastruktur eingebunden werden können, um die Ausgabe an bevollmächtigte Personen in Pflegeeinrichtungen zu vereinfachen. Eine entsprechende rechtliche Änderung muss dringend geprüft werden. Die Rennerei für Pflegekräfte und Patienten, um Unterschriften von Ärzten einzuholen, muss ein Ende haben! Die Potentiale der Digitalisierung und die Kompetenzen der Pflegefachkräfte müssen endlich ausgeschöpft werden.
3. Bürokratieabbau – Strukturen verschlanken und zielführender ausrichten
Das Übermaß an Bürokratie in der Pflege bleibt auch weiterhin ein großes Hindernis, um die Attraktivität der Berufe zu steigern. Die Initiative zur Einführung eines Strukturmodells zur Entbürokratisierung der Pflegedokumentation (Ein Step) lässt den Ansatz, den überbordenden Bürokratismus auf ein überschaubares Maß einzuschränken, realitätsnah werden. Das Konzept, das in der ambulanten, (teil-)stationären und Kurzzeit-Pflege Anwendung finden kann, ist auszuweiten und in allen Bereichen verpflichtend umzusetzen. Regelmäßige Leistungen sollen nur einmalig dokumentiert werden müssen. Eine darüber hinausgehende Dokumentationspflicht darf nur entstehen, wenn Leistungen von der individuellen grundpflegerischen Regelversorgung und Betreuung abweichen.
Der Abbau der Sektorengrenze muss konkretisiert werden. Die Wahlfreiheit der Versicherten muss dabei gewährleistet werden. Die Wohnformunabhängigkeit herzustellen, muss politisches Ziel bleiben, welches einer zeitnahen und tatsächlichen Umsetzung bedarf. Die Pflegeversicherung muss dabei ihrer Aufgabe weiterhin gerecht werden und vor pflegebedürftiger Sozialhilfeabhängigkeit schützen.
Um Verhandlungen und Schiedsverhandlungen auf Augenhöhe führen zu können, müssen die geltenden Regelungen zu Schiedsverfahren dringend vereinfacht und beschleunigt werden. Ich fordere daher eine automatische Zusammensetzung der Schiedsinstanzen, wenn die Vertragspartner sich zuvor nicht auf eine Besetzung einigen konnten. Die bisherige Schiedspersonen-Lösung für die häusliche Krankenpflege muss durch eine Schiedsstellen-Lösung ersetzt werden. Damit kann es gelingen, Festsetzungsfristen, innerhalb derer ein Schiedsspruch festgelegt werden muss, umzusetzen und einzuhalten. Aufschiebende Wirkungen von Einsprüchen gegen Schiedssprüche sind zu vermeiden. Dies sichert die Wettbewerbsfähigkeit aller beteiligten Verfahrenspartner und sorgt für Chancengleichheit. So wie § 85 Abs. 5 SGB XI dieses für Pflegesatzverfahren der Pflegeversicherung festlegt, muss eine entsprechende Regelung auch für die häusliche Krankenpflege eingeführt werden. Die Forderungen von Staatsekretär Westerfellhaus zur Vereinfachung von Schiedsverfahren und Schiedsverhandlungen auf Augenhöhe unterstütze ich dabei ausdrücklich.
Nicht nur im Alltag des Pflegepersonals müssen bürokratische Hürden abgebaut werden, sondern auch im Bereich der Personalgewinnung. Ich begrüße die von Bundesminister Spahn und vom saarländischen Ministerpräsidenten Hans gegründete Agentur, die sich künftig um Anträge für Visa, Berufsanerkennung und Arbeitserlaubnis ausländischer Fachkräfte kümmern soll. Ziel muss es dennoch sein, einheitliche, verständliche und transparente Rahmenbedingungen zu schaffen, um Berufsanerkennung und Arbeitserlaubnis unkompliziert zu erlangen. Weiterhin besteht die Sorge, dass Wartezeiten – z.B. bei der Beantragung eines Visums – von bis zu sechs Monaten noch immer zu lang sind, um Bewerber in den deutschen Arbeitsmarkt zu holen. Hierfür sind eine verbesserte personelle Ausstattung der deutschen Botschaften und der Anerkennungsbehörden sowie vereinfachte Verfahren unerlässlich.
Die Sicherstellung der pflegerischen Versorgung muss unser primäres Ziel sein. Auf ausländische Fachkräfte kann derzeit nicht verzichtet werden. Dafür muss aber auch sichergestellt sein, dass die Regelungen zu Einreisebestimmungen eingehalten werden und ausreichende Sprachkenntnisse anerkannt werden. Dies bedeutet auch, dass wir das Erfolgsmodell Goethe-Institut weltweit stärker fördern. Die finanziellen Mittel für die Ausbildung von Pflegefachkräften im Ausland müssen so erweitert werden, dass die Ausbildung wie der Erwerb notwendiger sprachlicher Qualifikationen sichergestellt sind. Gleichzeitig muss die Anerkennung anderer Bildungseinrichtungen mit Sprachangeboten bei gleichbleibenden Qualitätsansprüchen gewährleistet werden. Feststeht: Sprachkenntnisse müssen auch weiterhin während der Ausbildung erworben werden dürfen. Wenngleich die Kenntnisse über mindestens B1 oder B2 nachgewiesen werden müssen, bevor ein Berufszugang für eigenverantwortliche pflegerische Tätigkeiten ermöglicht werden kann, muss die Einreise mit einem vorliegenden Ausbildungsvertrag schon davor möglich sein. Insgesamt muss eine bundeseinheitliche standardisierte, digitale Erfassung von Visa-, Anerkennungs- und Nachqualifizierungsprozessen erfolgen, um die Abläufe zu beschleunigen. Intensiv müssen wir parallel darauf achten, die Attraktivität der Berufe auch im Inland weiter zu steigern. Eine jährliche Evaluation und Feststellung des Bedarfs von Personal soll dieses Ziel sicherstellen.
Auf die Kommunen kommt eine wesentliche Rolle in Bezug auf die pflegerische Versorgung zu, mit der sie nicht alleine gelassen werden dürfen: Eine Verlagerung von Kompetenzen der Kranken- und Pflegekassen auf die Kommunen ist daher nicht zielführend. Die Kommunen sollen im Rahmen der Altenhilfeplanung durch wettbewerbsneutrale Förderung für Anreize einer ausreichenden Versorgungsstruktur vor Ort sorgen und dafür die Daten zur demographischen Entwicklung einbeziehen. Pflegebedürftige und ihre Angehörigen sollen weiter über die Auswahl der richtigen Pflegeeinrichtung selbst entscheiden können. Die Förderung von Forschungsprojekten, die in Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Kommunen entstehen, müssen bundesanteilig umfangreicher finanziert werden.
4. Erweiterte Einbindung in die Versorgung – Zukunft der Berufe
Es muss politisches Ziel sein, neben der Vergütung auch die tägliche Arbeitsbelastung sowie die Rahmenbedingungen von Angestellten in der Pflege stärker in den Fokus zu nehmen.
Um die Attraktivität der pflegerischen Berufe zu steigern, müssen wir die Delegation und Substitution ärztlicher Leistungen stärker in den Fokus nehmen. Dadurch können wir auch das Ziel der notwendigen Entlastung der Ärzte erreichen. Die Regelungen nach §§ 63 (3b), 63 (3c) SGB V wie die Heilkundeübertragung müssen grundlegend weitergedacht werden. Zum einen benötigen wir ein Umdenken, dass die Erkenntnisgewinne aus erfolgreich durchgeführten Modellvorhaben zeitnah innerhalb der Regelversorgung übernommen werden können. Zum anderen brauchen wir ein Weiterdenken innerhalb der Modellvorhaben. Einschränkungen auf bestimmte Indikationen (wie Bluthochdruck, Demenz, chronische Wunden, Diabetes) sind dabei nicht sinnvoll, hier muss auch ein Umdenken innerhalb des Gemeinsamen Bundesausschusses stattfinden.
Insgesamt ist die Durchführbarkeit von Modellvorhaben zu vereinfachen und zu beschleunigen.
Die Möglichkeiten für Empfehlungen für Heil- und Hilfsmittel durch Pflegekräfte müssen eingerichtet werden. Gleiches muss auch für die Bereiche der enteralen Ernährung gelten. Langfristig muss es uns gelingen, Pflegekräften - losgelöst von einer Budgetverantwortung - eine Verordnungsmöglichkeit zu schaffen. Der ständige Kontakt mit den Versicherten und die direkte Arbeit am Pflegebedürftigen sind hierfür von klarem Vorteil.
Dosierungsänderungen auf Anweisung von Ärzten und unter Mitbetreuung durch Pflegekräfte müssen fernmündlich oder auf elektronischem Wege erfolgen dürfen.
Die im Pflegeberufereformgesetz vereinbarten Grundlagen müssen ab 2020 verpflichtend in den Schulen und Ausbildungsstätten umgesetzt werden. Damit verfolgen wir das Ziel einer zukunftsfähigen und qualitativ hochwertigen Pflegeausbildung für die Kranken-, Kinderkranken- und Altenpflege. Auch im Anschluss an eine hochwertige pflegerische Ausbildung muss die Möglichkeit zum Erwerb von erweitertem Fachwissen gegeben sein. Die Anzahl der angehenden Pflegekräfte ist deutlich zu erhöhen, hierfür müssen alle möglichen Maßnahmen von Bund und Ländern ergriffen werden. Das Pflegeberufegesetz geht davon aus, dass Auszubildende ab dem zweiten Ausbildungsjahr in einem gewissen Umfang zur personellen Entlastung in der pflegerischen Versorgung und zum Gewinn beitragen (vgl. § 27 Abs. 2 PflBG). Mit der im GSAV beschlossenen Anrechnungsfreiheit für das erste Ausbildungsjahr haben wir den Einrichtungen eine kostenneutrale Ausbildungsvergütung ermöglicht. Hieraus müssen wir dringend eine Komplettfinanzierung für alle Pflegeberufe über die gesamte Regelausbildungszeit ableiten.
Auch der unterschiedlichen Finanzierung zwischen Auszubildenden in der Pflege und den Pflegehilfskräften müssen wir entgegenwirken. Wir müssen alle Potentiale nutzen, um dem Pflegefachkräftemangel zu begegnen. Dazu zählt insbesondere die Weiterqualifizierung von Pflegehilfskräften zu Pflegefachkräften. Wir bieten damit Menschen, die schon viele Jahre in der Pflege arbeiten, eine hervorragende Perspektive. Aber Pflegehilfskräfte machen nur eine Ausbildung zur Pflegefachkraft, wenn sie in dieser Zeit nicht auf das Ausbildungsgehalt heruntergestuft werden. Deswegen setze ich mich dafür ein, dass die Differenz zwischen dem Ausbildungsgehalt und dem bisherigen Pflegehelfergehalt dauerhaft und vollumfänglich von der Bundesagentur für Arbeit übernommen wird.
Gleichzeitig müssen wir auch die Möglichkeiten durch die Akademisierung der Pflegeberufe deutlich stärker nutzen. Die Akademisierungsquote hat im Bereich der Pflegeberufe noch (enormen) Spielraum. Um den Einsatz von akademisch qualifizierten Pflegefachkräften sicherzustellen, ist eine entsprechende Refinanzierung durch die Kostenträger zu gewährleisten. Neben einer Erhöhung der Anzahl der akademisierten Pflegekräfte brauchen wir insbesondere eine zukunftsweisende akademische Ausbildung, die die Delegation und Substitution ärztlicher Leistungen vorantreibt. Die skandinavischen Länder sind Vorreiter in der Entwicklung derartiger Modelle, hieran sollten wir uns ein Beispiel nehmen. Ein Leuchtturm-Projekt kann die Einbindung akademisierter Pflegefachkräfte in die Röntgenuntersuchungen, wie die Auswertung der bildgebenden Verfahren sein, bei der heilkundliche Maßnahmen in die pflegerische Versorgung integriert werden. Langfristig kann dies noch unabhängiger von der Ärzteschaft organisiert werden.
Im Bereich der Erweiterten Pflegepraxis (Advanced Practice Nurse - APN) hat Deutschland insgesamt Nachholbedarf. Unabhängig vom Grad der Akademisierung muss die Spezialisierung auf ein bestimmtes pflegerisches Fachgebiet noch feinkörniger erfolgen, als es bislang geschieht. Hierbei kann auf bestimmte chronische oder häufig auftauchende Krankheiten genauso eingegangen werden wie auf bestimmte Versorgungsformen im Sinne einer Erweiterung der pflegerischen Praxis. Die Beispiele aus den USA, unter anderem aus dem lokalen Gesundheitsprogramm „LIFE - Living Independently For the Elderly“ aus Philadelphia, können als Vorlage dienen.
5. Finanzierung der Pflege – Umdenken erforderlich
Höhere Löhne und das Personalbemessungssystem bedeuten höhere Kosten für die Pflege. Dass immer mehr Menschen im hohen Alter aufgrund der steigenden Kosten für pflegerische Leistungen in die sozialen Sicherungssysteme abrutschen, ist nicht hinnehmbar und widerspricht exhaustiv der im deutschen Sozialduktus verankerten Idee eines konservativen Wohlfahrtstaates. Wenngleich die Zahlen der Personen, die auf Hilfe zur Pflege angewiesen sind, seit 1995 insgesamt deutlich zurückgegangen sind, müssen wir im Vergleich zum Vorjahr einen ersten Wiederanstieg beobachten. Die Pflegeversicherung wird dem Auftrag offenbar nicht gerecht, die Vermeidung pflegebedingter Sozialhilfeabhängigkeit zu erreichen. Daher müssen wir uns grundsätzliche Gedanken zur Finanzierbarkeit des Systems machen, die die wesentliche Neuaufstellung forcieren und Fehler aus den bisherigen Grundlagen vermeiden. Eine umfassende Pflicht zur Absicherung bleibt dabei unverzichtbar, entbindet jedoch nicht von dem Prinzip der Eigenverantwortung des Einzelnen und der Angehörigen. Eine sogenannte Pflegevollkaskoversicherung wäre ein vollkommen falsches Signal an die Versicherten und die Solidargemeinschaft. Gleichzeitig müssen versicherungsfremde Leistungen stärker als bisher durch Bundeszuschüsse abgegolten werden, um die Finanzierbarkeit des Systems auch künftig sicherzustellen.
Die Initiative, die sich mit einer Deckelung der Eigenanteile und einer Pflegepflichtversicherung auseinandersetzt, wird derzeit zu stark aus politischer Ideologie und zu wenig aus Verantwortungsbewusstsein gegenüber kommenden Generationen getragen. Eine Verschiebung, die zur Entlastung der Länder und zu deutlichen Mehrbelastungen der Beitragszahler und des Bundes führt, darf es nicht geben. Gleichwohl lohnt es sich, über weitere verpflichtende Sicherungssysteme nachzudenken, die geeignet sind, den steigenden Kosten der pflegerischen Versorgung einerseits und den Herausforderungen des demographischen Wandels andererseits, zu begegnen. Deswegen müssen wir an einem weiterführenden Konzept der Finanzierung arbeiten. Das Umlageverfahren stößt bereits jetzt – endgültig aber spätestens in wenigen Jahren – an seine Grenzen. Eine verpflichtende kapitalgedeckte Pflegezusatzversicherung unter Einbeziehung der Ressourcen von Bund und Ländern kann dazu beitragen, auch künftig ein generationengerechtes Pflegesicherungssystem außerhalb der Sozialhilfe aufzustellen. Hierfür muss die Stärkung des Pflegevorsorgefonds in Betracht gezogen werden.
Insgesamt müssen wir vor dem Hintergrund der Unterfinanzierung der Pflegeversicherung und der sich verändernden demographischen Entwicklung in unserem Land dazu übergehen, versicherungsfremde Leistungen anderweitig zu finanzieren. Rentenzahlungen für pflegende Angehörige und die Finanzierung der Kinderbetreuung, die bislang aus Mitteln der Pflegeversicherung finanziert wird, müssen durch einen Steuerzuschuss gedeckt werden. Außerdem müssen die Länder die Investitionskosten für die Pflegeeinrichtungen übernehmen (§ 9 SGB XI), damit nicht die Pflegebedürftigen weiter belastet werden. Das gleiche gilt auch für die Investitionskosten der Pflegeschulen.
Die Kosten, die sich aus der medizinischen Behandlungspflege ergeben, müssen von den Krankenkassen vollständig übernommen werden, auch für Bewohner von Pflegeeinrichtungen. Die Benachteiligung der Heimbewohner durch die fehlende Kostenübernahme führt zu steigenden Eigenanteilen, die für viele Bewohner den Weg in die Sozialhilfe bedeuten. Dies muss ein Ende haben.
Die Übernahme von Pflegehilfsmitteln zum Verbrauch (Produktgruppe 54) muss vollständig, folglich auch oberhalb der 40-Euro-Grenze, ermöglicht werden. Alles andere stellt einen unzulässigen Eingriff in die persönliche Freiheit dar. Die im Koalitionsvertrag vereinbarte kontinuierliche Anpassung der Sachleistungen an die Personalentwicklung muss zeitnah angegangen werden.
Unabhängig von diesen Kernforderungen werden wir steigende Kosten in der Pflege akzeptieren müssen. Es muss stärker als bisher politische Aufgabe sein, dies ehrlich zu kommunizieren. Besonders die jüngeren Generationen sind, auch aufgrund der steigenden Lebenserwartung, gefordert, sich mit der Frage der Finanzierung stärker zu beschäftigen. Eine verpflichtende Zusatzversicherung ab dem 1. Einkommensjahr kann auch dazu beitragen, diesen gesellschaftlichen Prozess voranzutreiben.
Die Herausforderungen in der Pflege angehen
Die Pflegeberufe und die pflegerische Versorgung stehen vor immensen Herausforderungen. Wir brauchen mehr Investitionen in die Pflege, um die Versorgung sicherzustellen. Dabei kann es der Staat nicht alleine richten, sondern wir brauchen das Engagement der vielen Pflegeeinrichtungen in Trägerschaft der Freien Wohlfahrtspflege wie in privater Trägerschaft. Ihnen muss die Möglichkeit gegeben werden, den erforderlichen Ausbau der Pflegeinfrastruktur in Deutschland zu gewährleisten. Die hier skizzierten Lösungsansätze müssen in den kommenden Jahren konsequent umgesetzt werden, um den langfristigen Prognosen zu begegnen und die pflegerische Versorgung, wie die dafür notwendige Finanzierung auch auf Dauer sicherzustellen. Es muss unsere oberste Priorität sein, eine zukunftssichere und generationengerechte Pflege zu schaffen.
Zusammenfassung der pflegepolitischen Forderungen
1. Wertigkeit der Pflege in der öffentlichen Wahrnehmung stärken!
- Einrichtung einer zentralen „Pflege-Hotline“ nach dem Vorbild des ärztlichen Bereitschaftsdienstes (116 117)
- eigene Pflegebeauftragte in den Bundesländern
- Verlängerung des Qualitätsausschusses Pflege und seiner Geschäftsstelle über den vereinbarten Zeitraum hinaus
- mehr Personalkapazitäten im Bundesministerium für Gesundheit
2. Digitalisierung – Chancen nutzen, Möglichkeiten erweitern
- Zugriffsrecht der Pflegeeinrichtungen auf die elektronische Patientenakte (ePa) und den elektronischen Medikamentationsplan
- Refinanzierung von „Pflege-Digitalberatern“ in bestehenden Personalstrukturen
- Verordnungsmöglichkeit für Gesundheitsapps durch Pflegekräfte
- Abbau bürokratischer Hürden bei Annahme- und Abgabevollmachten durch Einbindung in die digitale Infrastruktur
3. Bürokratieabbau – Strukturen verschlanken und zielführender ausrichten
- Vereinfachte Dokumentationspflicht in der Regelversorgung
- Sicherstellung der Wahlfreiheit der Versicherten (Wohnformunabhängigkeit)
- Schiedsstellen statt Schiedspersonen, Schiedsverhandlungen auf Augenhöhe
- Abbau bürokratischer Hürden bei der Gewinnung ausländischer Fachkräfte
- Vereinfachte Anerkennung von Sprachzertifikaten aus dem Ausland
- bundeseinheitlich standardisierte, digitale Erfassung von Visa-, Anerkennungs- und Nachqualifizierungsprozessen
4. Erweiterte Einbindung in die Versorgung – Zukunft der Berufe
- Erweiterung der Möglichkeiten zu Modellvorhaben nach §§ 63 (3b) und 63 (3c) SGB V
- Empfehlungsmöglichkeit für Heil- und Hilfsmittel durch Pflegepersonal
- Vereinfachung der Regelungen zu Dosierungsanweisungen
- Komplettfinanzierung der Pflegeberufe-Ausbildungsvergütungen
- Vollständige Übernahme der Differenz zwischen dem Ausbildungsgehalt und dem Pflegehelfergehalt bei Weiterqualifizierung von Pflegehilfskräften
- Förderung der Erweiterten Pflegepraxis (Advanced Practice Nurse - APN)
5. Finanzierung der Pflege – Umdenken erforderlich
- Übernahme von versicherungsfremden Leistungen durch Steuerzuschüsse
- Einführung einer verpflichtenden kapitalgedeckten Pflegezusatzversicherung
- Stärkung des Pflegevorsorgefonds
- Ausgliederung von Rentenzahlungen für pflegende Angehörige, Finanzierung der Kinderbetreuung (die bislang aus Mitteln der Pflegeversicherung finanziert werden) und der medizinischen Behandlungspflege
- Übernahmemöglichkeit von Pflegehilfsmitteln auch oberhalb der 40-Euro-Grenze
Dr. Roy Kühne ist seit 2013 Mitglied des Deutschen Bundestags und Ordentliches Mitglied im Ausschuss für Gesundheit. Seit 2017 ist er zuständiger Berichterstatter der CDU für Pflege und Pflegeberufe innerhalb der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Mehr dazu...
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